Wie ein Vogel und eine Spinne die wohl am längsten belichtete Fotografie der Welt schufen

Eine Geschichte über Zeit, Licht und das fragile Gleichgewicht zwischen Kontrolle und Natur.

Das Vergessen

Jahrelang zog ich mit meiner Black Box, die zu einer kleinen Galerie umgebaut war, durch die Straßen Europas und verkaufte Lochkamera-Fotografien. In viele Städte kam ich regelmäßig, mindestens einmal im Jahr. Oft hängte ich in den Bäumen kleine Dosen auf, die zu Lochkameras umgebaut waren, und nahm sie im nächsten Jahr wieder ab. So entstanden Fotoserien mit jeweils einjähriger Belichtungszeit – ein Rhythmus, den ich jahrelang beibehielt.

Wie ein Vogel und eine Spinne die wohl am längsten belichtete Fotografie der Welt schufen Eine Geschichte über Zeit, Licht und das fragile Gleichgewicht zwischen Kontrolle und Natur.
Mein Jahr endete in München, im Stadtteil Schwabing, auf dem Schwabinger Weihnachtsmarkt. An der Münchner Freiheit baute ich meine Black Box für einen Monat auf. Und dort geschah das Unvermeidliche: Ich vergaß, eine der Kameras nach einem Jahr wieder abzuhängen. Aus der geplanten einjährigen Belichtung wurden acht Jahre – von Dezember 2006 bis Dezember 2014.
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Eine kurze Geschichte der Technik

Die Technik, die ich verwende, geht zurück auf die Versuche von Nicéphore Niépce, der ab 1816 an einem revolutionären Problem arbeitete: Wie fixiert man die Bilder, die in einer Kamera obscura entstehen? Seine ersten Experimente nutzten Papier, das mit Silbersalzen beschichtet war. Diese Salze schwärzten sich unter Lichteinfluss. Im Mai 1816 gelang ihm die erste Reproduktion einer Naturaufnahme – ein Blick aus seinem Fenster. Er nannte diese Bilder „Rétines“ (Netzhäute). Doch es gab ein großes Problem: Diese Bilder waren nicht fixiert. In vollem Sonnenlicht schwärzte sich das Papier weiter und das Bild verschwand. Ich nutze die Lochkameras, die auch Monate oder sogar Jahre draußen gut überleben können. Nach der Belichtung scanne ich das Negativ und wandle es digital in ein Positiv um. Nur so kann die Information des Negativs als digitale Datei erhalten bleiben – und nur so kann man das ephemere, vergängliche Bild Niépces überhaupt bewahren. Mein Projekt „The 7th Day“, das ich 2012 startete, ist Niépces erster, nicht fixierter Fotografie gewidmet – jenem Moment, als Licht zum ersten Mal ein Bild auf Papier zeichnete, nur um es wieder zu zerstören. Inzwischen haben knapp 13.000 Menschen aus der ganzen Welt teilgenommen. Der Titel bezeichnet die minimale Belichtungszeit von sieben Tagen. Aber zurück zu unserem acht Jahre lang belichteten Bild.
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Die heimlichen Künstler

Was ich später entdeckte, war rätselhaft und wunderschön: nicht das Produkt menschlicher Hand, sondern das Resultat von Zufall, Geduld und Natur. Ein Vogel – vermutlich eine Amsel – hatte das winzige Loch, das als Objektiv diente, aufgestochen. Der Hunger oder die Langeweile trieb ihn davon, aber die Folgen seines Handelns blieben: Das Loch war zu groß geworden für eine Lochkamera. Eigentlich hätte damit alles vorbei sein sollen. Dann zog etwas Unerwartetes ein. Eine in Deutschland weit verbreitete Spinnenart besiedelte die beschädigte Kamera und flocht dort acht Jahre lang ihre Netze. Jeden Tag, jede Jahreszeit – Frühling, Sommer, Herbst, Winter – webte die Spinne ihre geometrischen Muster. Und die Kamera? Sie funktionierte unverdrossen weiter, aufzeichnend, wartend, empfangend. Mit jedem neuen Netz veränderte sich das Licht, das eindrang. Mit jedem Netz wurde die Fotografie mehr zu dem, was kein Mensch hätte planen können. Das Ergebnis erinnert sofort an Höhlenmalerei. Ein prähistorisches Tier scheint sich abzuzeichnen – möglicherweise ein „Ur“, ein Auerochse, jenes Tier, das im 17. Jahrhundert ausgerottet wurde. Eine Erinnerung an etwas Verlorenes, aufgezeichnet von einer Spinne in einer Kamera, die vergessen wurde.
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Sind wir nicht alle ein bisschen Spinnen?

Ein Vogel folgt seinem Instinkt. Eine Spinne webt. Das Licht gehorcht der Physik. Ich? Ich folge dem Drang, zu dokumentieren. Vielleicht ist Kunst nur ein Wort für das, was die Natur ohnehin tut.
Wir nennen es Kunst, wenn ein Mensch es tut. Die Spinne nennt es: zu Hause.

Autorennotiz

Das Bild mit der Originalkamera befindet sich im Privatbesitz in Taiwan. Das Experiment Rétina hat Niépce in Briefen an seinen Bruder beschrieben: https://niepce-letters-and-documents.com/ Das Projekt The 7th Day und weitere Tausende Langzeitbelichtungen können Sie hier anschauen: https://the-7th-day.de/archiv/ Lesen Sie die englische Version auf Medium: How a Bird and a Spider Created the World’s Longest Exposure Photograph