Die wunderschöne Gleichzeitigkeit

Eine fotografische Installation des Unmöglichen

Die wunderschöne Gleichzeitigkeit Eine fotografische Installation des Unmöglichen
1997, Größe: 12 × 42 × 59 cm, Handgeschöpftes Papier mit aufgetragener lichtempfindlicher Fotoemulsion, Unikat

Stuttgart, Hafen, 1997.

In der Nacht baute ich einen Apparat für das Unmögliche: zwölf Kameras im Kreis, in der Mitte ein transparenter Zylinder aus Gaze. Darin eine Person, die eine Uhr einstellt. Rotes Licht taucht die leere Halle in einen Zustand außerhalb der Zeit. Dann – ein weißer Blitz. Zwölf Kameras belichten eine Fotografie gleichzeitig. Damals wusste ich nicht genau, was ich tat. Ich folgte einer Intuition, die erst heute Worte findet.

Die wunderschöne Gleichzeitigkeit Eine fotografische Installation des Unmöglichen

…in a dark room, twelve cameras stood loaded with light-sensitive orthochromatic film.
On October 15, 1997, at 9:45 p.m., a burst of light flared for one second.
Twelve photographs were created simultaneously. Drawing by author

Das Wandern des Blicks

Wenn du ein Foto machst, geschieht alles auf diesem Bild gleichzeitig. Der Baum links, die Wolke rechts, die Person in der Mitte – sie alle existieren im selben Augenblick. Das Bild behauptet diese Gleichzeitigkeit mit der Autorität der Physik.

Aber wir Menschen können das nicht so sehen. Unser Blick wandert. Erst das Gesicht, dann die Hand, dann – ah, da ist ja ein Schatten im Hintergrund. Wir erforschen das Bild nacheinander, obwohl alles gleichzeitig da ist.

Das Bild behauptet Gleichzeitigkeit. Wir aber erleben sie als Zeit.

Die wunderschöne Gleichzeitigkeit Eine fotografische Installation des Unmöglichen

Was ich wollte

In meiner Installation konstruierte ich Gleichzeitigkeit anders. Nicht als Behauptung in einem flachen Bild, sondern als räumliches Ereignis. Zwölf verschiedene Orte, zwölf Perspektiven – aber alle im exakt selben Moment ausgelöst durch denselben Lichtblitz.

Anders als bei Muybridge, dessen Bewegungsstudien Bewegung zerlegen, war mein Auslöser das Licht selbst – physikalisch unmöglich, nicht gleichzeitig zu sein. Der Blitz synchronisiert absolut.

Eine Person wird zu zwölf Bildern im selben Moment. Aber auch diese Gleichzeitigkeit können wir nur nachträglich, nur seriell erfassen. Man muss von Bild zu Bild wandern, vergleichen, rekonstruieren.

Die Installation stellt eine Gleichzeitigkeit her, die wir nie als solche erleben können.

Plate F, 1879, from The Attitudes of Animals in Motion, 1881, Eadweard Muybridge
Gesamtansicht der Versuchsstrecke, Hintergrund und Kameras. Tafel F, 1879, aus The Attitudes of Animals in Motion, 1881, Eadweard Muybridge

Im roten Licht

Die Kameras waren primitiv: Kartonkisten mit einfachen Linsen, geladen mit orthochromatischem Film – zu lichtschwach für moderne Standards, aber mit einer entscheidenden Eigenschaft: Man kann ihn im roten Licht entwickeln. Auf Sicht. Das Publikum sah zu, wie die Bilder entstanden. Negative tauchten langsam aus der Dunkelheit auf, wie Geister im Bad. Die Dunkelkammer wurde zum Theater.

Das Radikalste:

Die Person in der Mitte entscheidet den Moment. Nicht ich als Künstler. Sie stellt die Uhr ein, sie wartet, sie drückt den Knopf. Sie ist gleichzeitig Modell, Performer und Autor.

Manche waren nervös, überlegten lange. Andere drückten impulsiv. Jeder Mensch hat einen anderen Rhythmus für die Entscheidung, bereit zu sein, gesehen zu werden.

Die wunderschöne Gleichzeitigkeit Eine fotografische Installation des Unmöglichen

Was ich heute sehe

Vielleicht ging es nie um Gleichzeitigkeit als technisches Problem. Vielleicht ging es um die Unmöglichkeit, sich selbst vollständig zu sehen.

Du stehst in der Mitte. Du drückst den Knopf. Für eine Sekunde bist du zwölf Bilder gleichzeitig. Aber du kannst dich nie gleichzeitig aus zwölf Perspektiven sehen. Du musst nacheinander von Bild zu Bild wandern. Und in jedem Bild siehst du eine andere Version von dir. Etwas, das du nicht kanntest.

Die Installation sagt: Du bist mehr, als du von dir selbst sehen kannst. Du existierst in zwölf Perspektiven gleichzeitig, aber keine davon ist die ganze Wahrheit.

Wir leben in permanenter Gleichzeitigkeit und können sie doch nie erfassen. Wir sind seriell in einer simultanen Welt. Meine Installation wollte diese Diskrepanz nicht lösen, sondern sichtbar machen – und feiern.
Denn gerade weil wir niemals alles gleichzeitig erfassen können, sind wir frei von der Last, es zu müssen. Wir dürfen nacheinander schauen. Wir dürfen Zeit brauchen.

Die Gleichzeitigkeit ist wunderschön, weil sie unmöglich ist.

Autorennotiz

Die Negative im Format 10 × 15 cm wurden am 15. Oktober 1997 um 21:45:00 Uhr belichtet und vor dem Publikum entwickelt. Die Vergrößerungen fertigte ich im Laufe von zwei Wochen an. Alle Arbeiten sind Unikate: Büttenpapier mit Büttenrand, 42 × 59 cm, mit aufgetragener Fotoemulsion.

Lesen Sie die englische Version auf Medium:
The Beautiful Simultaneity